Mehr Harmonie, weniger Konflikt

Wie Ost- und Südostasien kulturelle Vielfalt leben

Kulturelle Wurzeln der Harmonie in Asien

Ost- und südostasiatische Gesellschaften gelten oft als konfliktärmer und gemeinschaftsorientierter als westliche. Ein Schlüssel hierzu liegt in tief verwurzelten kulturellen Werten wie Konfuzianismus und dem Konzept des Gesichts („face“). In konfuzianisch geprägten Kulturen genießt Harmonie höchsten Stellenwert: Bereits Konfuzius lehrte, dass familiäre Harmonie die Voraussetzung für Frieden im Dorf, der Provinz und letztlich im ganzen Reich sei. Gesellschaftliche Ordnung entsteht demnach durch gegenseitige Achtung, Respekt vor Hierarchien und das Zurückstellen egoistischer Interessen.

Konflikte werden vermieden, um das Gesicht aller Beteiligten zu wahren. Tatsächlich wird in vielen asiatischen Kulturen offene Konfrontation als unschicklich empfunden. Kritik oder Meinungsverschiedenheiten werden indirekt geäußert, um niemanden öffentlich bloßzustellen – ein Gesichtsverlust wäre nur schwer wiedergutzumachen. Widerspruch gilt in solchen kollektivistischen Gesellschaften als Bedrohung des Gruppenfriedens und ist folglich weniger akzeptiert, während in individualistischen westlichen Kulturen Wettbewerb und Konfrontation eher als legitime Mittel zum Erreichen persönlicher Ziele angesehen werden.

Diese kulturellen Unterschiede spiegeln sich auch im Aggressionsverhalten wider. Empirische Studien zeigen, dass Schüler in individualistischen Ländern häufiger aggressives Verhalten zeigen als in kollektivistischen Ländern. Das Bedürfnis, sozialen Zusammenhalt zu bewahren, ist in Asien wichtiger als das Durchsetzen individueller Ansprüche. Dieser Wert wird von klein auf vermittelt: Erziehungsstile betonen Gehorsam und Rücksichtnahme gegenüber Eltern, Lehrern und Älteren.

Indonesien: Einheit in Vielfalt

Ein eindrucksvolles Beispiel für gelebte kulturelle Vielfalt ist Indonesien. Der riesige Inselstaat vereint über 17.000 Inseln, Hunderte Ethnien und mehrere Religionen. Trotz dieser Vielfalt hat Indonesien ein starkes nationales Gemeinschaftsgefühl entwickelt. Das Staatsmotto „Bhinneka Tunggal Ika“ – Einheit in Vielfalt – ist zum gesellschaftlichen Leitideal erhoben worden. Ethnische Identitäten werden nicht als etwas betrachtet, das man einebnen müsste, sondern bilden die Grundlage der nationalen Identität.

Einen zentralen integrativen Faktor stellt auch die Religion dar. Indonesien ist das bevölkerungsreichste muslimische Land der Welt, doch der Islam hier ist geprägt von einer langen Tradition des gemäßigten, synkretistischen Glaubens. Der Staat erkennt im Rahmen der Pancasila-Ideologie offiziell sechs Religionen an. Dieses Modell des „einheitlichen Monotheismus“ schuf einen gemeinsamen Nenner, ohne allen dieselbe Glaubensrichtung aufzuzwingen.

„Indonesische Gesellschaft löst Probleme traditionell mit Diplomatie, Empathie, Sanftmut und Sensibilität. Bei tausenden ethnischen Gruppen hat die Kultur des gegenseitigen Respekts ein starkes Fundament in der Gesellschaft.“ – Yudi Latif, indonesischer Gelehrter

Japan: Kollektivismus und sozialer Frieden

Ein ganz anderes, aber ebenso aufschlussreiches Beispiel bietet Japan. Der Inselstaat ist außergewöhnlich homogen. Japans niedrige Gewalt- und Kriminalitätsrate ist stark auf die kollektivistische Mentalität zurückzuführen. Werte wie Loyalität, Hierarchie und Pflichterfüllung prägen das Leben. Von Kindesbeinen an lernt man in Japan, die eigenen Wünsche unter die Bedürfnisse der Gruppe zu ordnen. Harmonie (和, wa) gilt als hohes Gut.

Die soziale Kohäsion zeigt sich auch in Krisenzeiten. Nach Naturkatastrophen wurde weltweit die disziplinierte und ruhige Reaktion der Bevölkerung bewundert. Dieses Verhalten ist das Resultat eines tief verankerten Gemeinschaftsgefühls. Das Sprichwort „Der Nagel, der heraussteht, wird eingehämmert“ illustriert, wie sozialer Druck Abweichler wieder ins Kollektiv holt. Dies kann zwar einengend sein, verhindert aber soziale Aggression und Ausgrenzung.

Thailand: Das Land des Lächelns und der Gelassenheit

Thailand bietet ein weiteres faszinierendes Modell für sozialen Frieden, das stark vom Theravada-Buddhismus und der tiefen Verehrung der Monarchie geprägt ist. Die buddhistische Lehre, die das Streben nach der Überwindung von Gier, Hass und Verblendung in den Mittelpunkt stellt, fördert eine Haltung der Gewaltlosigkeit und des Mitgefühls. Dies manifestiert sich in der berühmten thailändischen Freundlichkeit und dem allgegenwärtigen Lächeln, das oft dazu dient, Konfrontationen zu vermeiden und eine angenehme Atmosphäre zu schaffen.

Ein zentrales kulturelles Konzept ist „Mai Pen Rai“ (frei übersetzt: „Macht nichts“ oder „Keine Sorge“). Diese Lebenseinstellung drückt eine Form von fatalistischer Akzeptanz aus und hilft, Ärger und Frustration über kleine und große Ärgernisse des Alltags zu minimieren. Anstatt auf einem Problem zu beharren oder einen Konflikt zu eskalieren, lässt man die Dinge oft einfach auf sich beruhen. Dies trägt maßgeblich zur Deeskalation bei, kann aber aus westlicher Sicht auch als mangelnde Verantwortungsübernahme missverstanden werden.

Zusätzlich wirkt die Monarchie als einigendes nationales Symbol, das über politischen und sozialen Spaltungen steht. Der Respekt vor dem König und der königlichen Familie ist gesetzlich verankert und tief in der Kultur verwurzelt, was eine Ebene der nationalen Einheit schafft, die zur Stabilität beiträgt. Wie in anderen asiatischen Kulturen werden auch hier Hierarchien respektiert und das „Gesicht“ gewahrt, was offene Kritik oder Aggression zu einem sozialen Tabu macht.

Deutschland: Wohlstandsgesellschaft mit Integrationskonflikten

Ein Blick auf Deutschland zeigt eine andere Realität. Deutschland ist ein multikulturelles Einwanderungsland, doch trotz hohem Wohlstand gibt es immer wieder Reibungen. Der westliche Individualismus betont persönliche Rechte und Freiheiten. Kontroverse Debatten werden oft direkt und konfrontativ geführt, was zu Polarisierung führen kann. Wo asiatische Kulturen Konflikte eher vermeiden, trägt die westliche Kultur sie offen aus.

Historisch fehlte Deutschland lange eine positive Erzählung zur Migration. Es galt als ethnisch definierter Nationalstaat. Sogenannte Parallelgesellschaften und sozialräumliche Trennung führen zu weniger Alltagskontakt und höherem Konfliktpotenzial. Anders als in Indonesien, wo Religion einigend wirken kann, ist sie in Deutschland oft ein Konfliktfeld. Die soziale Kohäsion im Westen ist stärker auf Wohlstand und Rechtsordnung gebaut, was allein oft kein starkes Wir-Gefühl erzeugt.

Der gemeinsame Kern der Gewaltfreiheit

Wie kann es sein, dass das extrem heterogene, multireligiöse Indonesien und das außergewöhnlich homogene, buddhistisch-shintoistische Japan eine ähnliche Tendenz zur Gewaltarmut aufweisen? Auf den ersten Blick scheinen die Gesellschaften grundverschieden. Doch bei genauerem Hinsehen offenbaren sich tiefere, gemeinsame kulturelle Strömungen, die den sozialen Frieden fördern.

  1. Primat des Kollektivs: Ob in der Dorfgemeinschaft in Indonesien oder im Unternehmen in Japan – das Wohl der Gruppe hat Vorrang vor den Wünschen des Einzelnen. Individualismus wird als potenziell störend für die soziale Ordnung empfunden. Dieses Prinzip zwingt zu Kompromissen und Rücksichtnahme.
  2. Die Kultur des „Gesicht-Wahrens“: Dieses Konzept ist pan-asiatisch. Einen anderen Menschen (oder sich selbst) öffentlich zu blamieren, zu kritisieren oder zu konfrontieren, führt zu einem Gesichtsverlust, der als extreme Demütigung empfunden wird. Um dies zu vermeiden, werden Konflikte indirekt, diplomatisch und oft über Mittelsmänner gelöst. Direkte, offene Aggression ist daher sozial geächtet.
  3. Harmonie als aktives Ziel: Während im Westen Harmonie oft als passiver Zustand der Abwesenheit von Streit verstanden wird, ist sie in vielen asiatischen Kulturen ein aktiv angestrebtes Ziel, das ständiger Pflege bedarf. Man investiert bewusst Energie, um Spannungen zu vermeiden oder zu glätten, sei es durch Höflichkeit, Lächeln oder das Zurückstellen der eigenen Meinung.
  4. Respekt vor Hierarchie und Alter: Die Akzeptanz von klaren sozialen Hierarchien (Eltern über Kindern, Ältere über Jüngeren, Vorgesetzte über Mitarbeitern) entschärft viele potenzielle Konflikte von vornherein. Anstatt Autorität herauszufordern, fügt man sich eher in die gegebene Ordnung ein.

Diese Mechanismen wirken unabhängig davon, ob eine Gesellschaft ethnisch vielfältig oder homogen ist. Sie bilden eine Art „soziales Betriebssystem“, das darauf ausgelegt ist, Reibung zu minimieren. Während in Indonesien die Vielfalt durch ein gemeinsames Nationalnarrativ und gegenseitige Hilfe (Gotong Royong) zusammengehalten wird, sorgt in Japan der soziale Druck zur Konformität für ein ähnliches Ergebnis. Der Kern ist derselbe: Der soziale Frieden ist wichtiger als der individuelle Ausdruck von Unmut oder Kritik.

Fazit

Ost- und Südostasien und der Westen zeigen zwei unterschiedliche Wege im Umgang mit kultureller Vielfalt. In Asien sorgen kollektive Werte und Harmoniebedürfnis für bemerkenswerten Zusammenhalt. Im Westen kämpfen Gesellschaften mit Individualismus und ideologischen Gräben. Natürlich ist diese Darstellung nicht frei von Ausnahmen und Idealisierungen. Doch die Tendenz zeigt, dass kulturelle Werte und historische Entwicklungen einen erheblichen Einfluss darauf haben, wie erfolgreich Gesellschaften Vielfalt integrieren.

Am Ende könnten beide Seiten voneinander lernen. Westliche Länder könnten mehr Wir-Gefühl fördern, während asiatische Länder darauf achten müssen, dass Harmoniestreben nicht zu Unterdrückung führt. Die Balance zwischen Harmonie und Authentizität, Kollektiv und Individuum, ist die große gesellschaftliche Herausforderung in einer globalisierten Welt.